Informatische Bildung gehört in jede Schullaufbahn – Schleswig-Holstein und Hamburg brauchen ein Pflichtfach Informatik in der Sekundarstufe I
Die GI-Fachgruppe SH-HILL hat am 30.10.2020 die Forderung nach einem Pflichtfach Informatik in der Sekundarstufe I auf ihrer Webseite veröffentlicht (https://sh-hill.de/pflichtfach.html), an deren Formulierung ich mitwirken konnte:
Informatik als Bezugswissenschaft der Digitalisierung
Die Digitalisierung transformiert Gesellschaft, Arbeitswelt und Schule tiefgreifend. Kaum ein Lebensbereich kommt in der Informationsgesellschaft noch ohne den Einsatz digitaler Systeme und Geräte aus. Hier hat die Informatik als Bezugswissenschaft entscheidenden Anteil, da Digitalisierung auf Informatiksystemen basiert.
Der Wissenschaftsrat schreibt der Forschung im Bereich Didaktik der Informatik eine wichtige Rolle beim dringend gebotenen Ausbau digitaler Bildung zu (https://www.wissenschaftsrat.de/download/2020/8675-20.pdf?__blob=publicationFile&v=9; S. 9). Er empfiehlt den Ausbau „der Didaktik der Informatik an allen lehrkräftebildenden Universitäten mit Informatik-Fachbereichen. […] [Darüber hinaus] verspricht sich der Wissenschaftsrat von einer Verankerung der Didaktik der Informatik am Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und der Mathematik (IPN) in Kiel wichtige Impulse für die Forschung“ (ebd.).
Grundlegende informatische Kompetenzen sind somit erforderlich, um sich in einer digitalisierten Welt orientieren und engagieren zu können. Dies beinhaltet nicht nur Wissen um Technik und deren Anwendung, sondern auch die Analyse und reflektierte Entwicklung von Software und Informatiksystemen. Informatiksysteme sind nicht nur PCs oder das Internet, sondern beispielsweise auch eine Suchmaschine, ein Webshop, eine Ticketverwaltung oder die Datenbank einer Gesundheitsbehörde. Diese Systeme, ihre Funktionsweisen und Wechselwirkungen grundlegend zu durchdringen ist Inhalt des Informatikunterrichtes.
Digitalisierung ist mehr als Technik, Informatik auch
Die Corona-Krise zeigt insbesondere in der Schule Defizite in Digitalisierung und Technikverwendung auf. So wurden Schüler- und Lehrerlaptops, Lernplattformen und Werkzeuge für kollaboratives Arbeiten von einem „Nice-to-have“ plötzlich zu einem „Must-have“, damit Unterricht überhaupt stattfinden konnte (https://www.fernuni-hagen.de/imperia/md/content/universitaet/hagenermanifest/hagener-manifest.pdf). Durch Digitalpakt I, II und III steht die Technik sehr im Vordergrund: Digitalisierung ist jedoch viel mehr als nur Hardware! Fortbildungen, angemessene Unterrichtsgegenstände und klare Vorstellungen von Zielen allgemeinbildenden Unterrichtes für eine digitalisierte Welt brauchen eine feste Verankerung im Schulalltag mit einem Leitfach Informatik.
Bildung in der digitalen Welt ist mehr als „Digitale Medien im Fachunterricht“.
Die KMK-Strategie „Bildung in der digitalen Welt“ formuliert über 60 Kompetenzen, die integrativ in allen Fächern unterrichtet werden sollen. Programme, Kongresse und Broschüren des IQSH und des LI zu „Digitalen Medien im Fachunterricht“ sind ein wichtiger Baustein, um Lehrkräfte in die Lage zu versetzen, diese Kompetenzen in ihrem Unterricht umzusetzen. Die Frage ist aber, ob das reicht. In der Zukunft müssen wir als im Bildungssystem Aktive nicht nur user, sondern auch creator sein (https://richard-ralfs.de/blog/cs4all-pflichtfachinformatik/). Um der digitalen Entwicklung nicht ohnmächtig ausgeliefert zu sein, braucht es eine fundierte Grundvorstellung, wie digitale Maschinen und Prozesse funktionieren, wie Digitalisierung funktioniert. In der Dagstuhl-Erklärung haben Medienwissenschaftler, Medienpädagogen und Informatikdidaktiker ein Konzept für die Bildung in der digitalen Welt erarbeitet (https://dagstuhl.gi.de/dagstuhl-erklaerung). Um eine nachhaltige und strukturell verankerte Bildung für die digitale vernetzte Welt zu gewährleisten, müssen in der Schule die Erscheinungsformen der Digitalisierung unter verschiedenen Perspektiven betrachtet werden: Bildung in der digitalen Welt bedarf der Anwenderperspektive (Wie nutze ich das?) , der gesellschaftlich-kulturellen (Wie wirkt das?) und der technischen (wie funktioniert das?) Perspektive.
Viele von der KMK verbindlich geforderte Kompetenzen lassen sich in dieser Perspektive nicht ohne Informatikunterricht erreichen. Ira Diethelm schreibt hierzu: „Qualitativ hochwertige Bildung für alle Schülerinnen und Schüler braucht grundständig hochwertig ausgebildete Lehrkräfte. Das nötige technologische Hintergrundwissen kann am besten die Bezugswissenschaft, das Fach Informatik liefern, auch wenn sich alle Fächer damit auseinandersetzen müssen – analog zum Fach Deutsch. Informatik-Lehrkräfte und ihr Unterricht können und müssen den anderen Fächern die Struktur geben und den Kollegen einen deutlichen Teil der Last abnehmen, die für den erfolgreichen Einsatz und die Kompetenzentwicklung in allen Fächern erforderlich ist.“ (Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgeabschätzung im Deutschen Bundestag, Ausschussdrucksache 19(18)37 g vom 15.10.2018)
Informatikunterricht befähigt dazu, den Wandel in Gesellschaft und Arbeitswelt zu verstehen und aktiv mitzugestalten.
Agiles, kooperatives und vernetztes Arbeiten braucht agiles und kooperatives Lernen sowie vernetztes Denken. Es geht nicht darum, sich den technischen Anforderungen einfach anzupassen, sondern interaktiv Weiterentwicklungen voranzutreiben. Zur Informatikkompetenz gehört auch, konstruktiv und kooperativ miteinander zu lernen und zu arbeiten, zu agieren und mit den digitalen Wirklichkeiten reflektiert umgehen zu können. Agilität und Projektarbeit sind wichtige Kennzeichen des Informatikunterrichts.
Das Pflichtfach Informatik fördert Bildungsgerechtigkeit.
Sowohl die ICILS-Studie von 2013 als auch ihr Nachfolger ICILS 2018 ergaben, dass fast 30 Prozent der Jugendlichen in Deutschland nur über unzureichende Computer- und IT-Kompetenzen verfügen. Sie werden es schwer haben, erfolgreich am privaten, beruflichen sowie gesellschaftlichen Leben des 21. Jahrhunderts teilzuhaben. Die Bildungsforscherin Brigit Eickelmann hat die Ergebnisse der Studie ICILS 2013 für die Heinrich-Böll-Stiftung gezielt unter dem Aspekt „Bildungsgerechtigkeit“ ausgewertet (https://www.boell.de/sites/default/files/uploads/2015/04/2015-04-eickelmann_-_bildungsgerechtigkeit-4.0.pdf). Trotz stärkerer Techniknutzung durch Jungen verfügen Jungen laut Studien im Mittel über geringere Kompetenzen. Die Vergleiche der Kompetenzstände von Jugendlichen in Deutschland weisen deutliche Unterschiede zuungunsten von Jugendlichen aus niedrigeren sozialen Lagen aus. Jugendliche mit Migrationshintergrund sind in den unteren Kompetenzstufen überrepräsentiert. Nur ein verpflichtender Informatikunterricht in der Sekundarstufe I erreicht Mädchen und Jungen aller sozialer Schichten gleichermaßen und kann damit einen Beitrag leisten zur Förderung der Bildungsgerechtigkeit im Kontext MINT, Digitalisierung und Medien.
Das Pflichtfach Informatik stärkt die politische Mündigkeit und die Demokratie.
Unsere Gesellschaft benötigt digital selbstbestimmte Bürgerinnen und Bürger, die eigenverantwortlich mit aktuellen Produkten, Geräten und Technologien umgehen können und sich proaktiv mit den Vorteilen und möglichen Risiken der Nutzung auseinandersetzen (https://dl.gi.de/bitstream/handle/20.500.12116/28970/b7.pdf). Dies Betrifft auch aktuelle Entwicklungen, von Fake-News in sozialen Medien, der Organisation von Demokratiebewegungen in autoritären Staaten über Vorratsdatenspeicherung und Bundestrojaner bis hin zur Corona-App.
In der aktuellen KI-Strategie des Landes Schleswig-Holstein wird im Bereich Bildung gefordert: „Wir setzen uns daher dafür ein, dass schon in den Schulen Grundkenntnisse über Datenanalyse, -nutzung und -verwertung vermittelt werden. Wir wollen, dass sich vor allem auch mehr Schülerinnen kritisch und konstruktiv mit KI auseinandersetzen und sich mehr Studentinnen an der Entwicklung von KI beteiligen.“ (https://www.schleswig-holstein.de/DE/Landesregierung/Themen/Digitalisierung/Digitalisierung/KI_Strategie/_documents/bildung.html). Die Einführung eines Pflichtfaches Informatik leistet hierzu einen entscheidenden Beitrag.
Hamburg wiederum wurde gerade zur smartesten Stadt Deutschlands gewählt und soll Hauptstadt der Computerspiele sein (https://www.heise.de/news/Hamburg-Das-bedeutendste-IT-Bundesland-4928708.html). Aber auch im „Bedeutendsten IT-Bundesland“ kann man Abitur machen, ohne ein einziges Mal in der Schule mit Informatik in Berührung gekommen zu sein. Hierbei ist allgemeinbildender Informatikunterricht nicht zu verwechseln mit der ebenfalls notwendigen, aber inhaltlich und organisatorisch anders gestalteten beruflichen informatischen Bildung, die Spezialwissen vermittelt, welches nicht alle Jugendlichen benötigen.
Wie sieht ein zeitgemäßer Informatikunterricht aus?
Unsere Forderungen zielen nicht darauf ab, kleine Softwareentwicklerinnen und -entwickler auszubilden oder einer Berufsausbildung vorweg zu greifen, sondern das Gröbste an informatischem Grundverständnis allen Kindern und Jugendlichen zugänglich zu machen. Was ist überhaupt ein Informatiksystem, was ein Netzwerk und ein Algorithmus? Wie funktioniert Datenübertragung, das Internet und was ist ein Automat? Wie werden verschiedene Dokumentarten abgespeichert, komprimiert und übertragen? Was ist eine Pixelgrafik, wofür nutze ich eine Textverarbeitung und wie strukturiere ich eine Dateiablage? All diese Fragen sind allgemeinbildend, weil alltäglich relevant und gesellschaftlich bedeutsam. Datenschutzfragen und kritisches Medienkonsumverhalten werden erst ersichtlich und greifbar, wenn Schülerinnen und Schüler gestalten können, wissen wie (soziale) Netzwerke und Automatisierung grundsätzlich funktionieren.
Dazu kommt, dass viele Arbeitsweisen der Informatik auch in vielen anderen Fächern anwendbar sind: Agile Methoden können in allen Fächern und fächerübergreifend eingesetzt werden. Simulationen können im Informatikunterricht programmiert werden, um Sachverhalte in anderen Fächern zu veranschaulichen, z.B. die Entwicklung einer Pandemie (https://www.youtube.com/watch?v=rSHcNpGOGOs).
Damit am Ende einer Schullaufbahn sichergestellt werden kann, dass jede und jeder Jugendliche zumindest eine Grundvorstellung von automatisierter Datenverarbeitung, digitalen Medien und Netzwerken hat, sollte die informatische Bildung deutlich gestärkt werden und alle Schülerinnen und Schüler allgemeinbildender Schulen erreichen.
Wie sieht der Weg zum Pflichtfach Informatik aus?
Klar ist: Die Einführung eines Pflichtfachs Informatik in der Sekundarstufe I kann kurzfristig erfolgen. Es braucht dazu einen Stufenplan, wie ihn zum Beispiel Niedersachsen vorgelegt hat (https://www.mk.niedersachsen.de/startseite/aktuelles/presseinformationen/informatik-wird-ab-dem-schuljahr-2023-2024-pflichtfach-weitere-qualifizierungskurse-fur-lehrkrafte-starten-184807.html). Die Einführung muss einhergehen mit einer Weiterqualifizierung von Lehrkräften, die bereits in Schulen arbeiten. Erfahrungen aus Bayern zeigen, dass die Einführung eines Pflichtfachs Informatik danach auch zu einer Erhöhung der Studierendenzahlen im Informatik- und Informatiklehramtsstudium führt (https://berufsinformatik.de/wp-content/uploads/2020/04/2013-08-25-verlagsfassung-infos2013-1.pdf; S. 147). Und die Voraussetzungen für die Einführung eines Pflichtfachs Informatik sind gut: Es gibt bereits das etablierte (Wahlpflicht-) Fach Informatik und entsprechend viele Lehrkräfte. Es gibt eine Professur für Didaktik der Informatik an der Universität. Es gibt Erfahrungen mit anderthalbjährigen/zweijährigen Weiterbildungskursen zur Erlangung der Lehrbefähigung in Informatik für Lehrkräfte anderer Fächer, und es gibt eine engagierte Gemeinschaft von Informatiklehrkräften in der GI-Fachgruppe SH-HILL (www.sh-hill.de), die sich für einen zeitgemäßen Informatikunterricht und attraktive Fortbildungen einsetzt.